Montreal ist ein Feinschmecker-Paradies. Die Millionenstadt in Kanada bietet rund 5.000 Restaurants mit Speisen aus über 80 Ländern. Und den Marché Jean-Talon, den Mikrokosmos Montreals, der die ethnische Vielfalt der Stadt mit Einflüssen aus Kulturen der ganzen Welt reflektiert.
„Der Jean-Talon Markt ist das Mekka aller Köstlichkeiten! Ein Fest für Gaumen und Sinne! Dort findest du Leckereien aus allen Gegenden des Planeten, einfach alles, was der Gaumen begehrt. Du solltet auf jeden Fall hungrig über den Markt bummeln, am besten zwischen Frühstück und Mittagessen“, rät mir die Wahl-Montrealerin Christine. „Und wenn du Glück hast, mischt sich das Ensemble der Montrealer Oper unter die Marktbesucher und singt Arien“. Zur Demonstration zeigt sie mir ein Video auf ihrem iPhone. Ein Marktbesucher in Jeans und kariertem Hemd bummelt mit einem Weinglas in der Hand zwischen den Ständen umher und fängt plötzlich an, das Trinklied aus La Traviata zu singen. Es ist der Tenor Riccardo Iannello. Die Marktfrau hinter ihm entpuppt sich als die Sopranistin Pascale Beaudin. „Auf dem Jean-Talon weiß man nie, was einen erwartet oder wer einem begegnet“, lacht Christine.
Der 1933 eröffnete Markt ist das Herzstück Little Italys. Mit über 20.000 Quadratmetern umfasst er einen ganzen Straßenblock. 150 Bauern und Importeure aus der Umgebung verkaufen an sieben Tagen der Woche neben lokalen Produkten unzählige exotische Früchte, Gemüsesorten und Gewürze. Rings um die Marktstände befinden sich Bäckereien, Delikatessenläden, Fischhändler, Weinhandlungen, kleine Cafés und Restaurants. Auch der beste Käsehändler der Stadt, La Fromagerie Hamel, ist hier mit einer Verkaufsstelle vertreten. Zur Auswahl stehen über 1.000 Käsesorten aus dem In-und Ausland. Das größte Gebäude auf dem Markt gehört der Boulangerie Première Moisson, Meister aller Backwaren in Montreal. Torten, Kuchen und Quiches werden wie wertvolle Kunstwerke hinter Glas ausgestellt.
In den Korridoren auf dem Markt herrscht buntes Treiben. Hausfrauen, Studenten, Rentner und Gourmets sind mit Körben und Einkaufstaschen unterwegs. An manchen Ständen haben sich Schlangen gebildet. „Ist hier unter der Woche immer so viel los?“, frage ich eine der Verkäuferinnen. Bevor sie antworten kann, mischt sich die Kundin hinter mir ein: „Wir Montrealer bereiten unser Essen gern aus frischen Zutaten zu, deshalb kaufen wir Obst und Gemüse täglich frisch auf dem Markt“. „Comme en France“ (wie in Frankreich), bestätigt die Marktfrau und fügt hinzu: „Auch die Küchenchefs zahlreicher Restaurants und Hotels kommen regelmäßig hierher und kaufen frisches Obst und Gemüse, Käse, frischen Fisch und Gewürze für ihre Kreationen.“
Schwarzrote Kirschen, liebevoll zubereitete Körbchen mit einem Mix aus Blaubeeren, Brombeeren, Himbeeren und Johannisbeeren, exotische Früchte und Gemüse wie Papayas, Guaven, Curubas, Palmherzen und Lotus, Produkte aus Ahornsirup und andere Süßigkeiten – Leckereien und eine Farbenpracht, wie ich sie nur von Märkten in Lateinamerika kenne. An allen Marktständen stehen Teller und Schalen mit kleingeschnittenem Obst und Gemüse, damit Kunden und Besucher probieren können, bevor sie sich zum Kauf entschließen. Vieles, wie Chayoten, Curubas oder Cherimoyas kenne ich nicht und muss nachfragen. Bereitwillig geben die Marktfrauen Auskunft über die Herkunft und Zubereitung der exotischen Obst- und Gemüsesorten. So erfahre ich von Marie, die seit zehn Jahren mit einem Stand auf dem Markt vertreten ist, wie Brotfrucht, Palmherzen, Kochbananen und Chayoten am besten zubereitet werden.
Bei so viel Auswahl an Obst, Gemüse und Säften kann ich mich kaum entscheiden, wovon ich zuerst probieren soll. Die Beeren sind riesig und schmecken so lecker, dass ich zwei Körbchen davon nehme. Am Stand mit den Maple Sugar Candys, die sprichwörtlich auf der Zunge zergehen, komme ich nicht vorbei und kaufe gleich mehrere Packungen. In einer Espresso-Bar bestelle ich mir einen Cappuccino und öffne das erste Schächtelchen der leckeren Pralinen aus Ahornsirup.
El Rey del Taco soll die besten Tacos der Stadt machen – eine Portion mit drei üppig belegten Tacos kostet nur acht Dollar. „Gibt es davon auch die vegetarische Variante“, möchte ich wissen. „Whatever you like, we prepare it!“ versichert mir der Taco-Mann und wenige Minuten später drückt er mir die lecker aussehenden Tacos in die Hand. Sie befinden sich in einem praktischen Pappschächtelchen, so dass ich sie im Gehen essen kann.
„My God, Sauerkraut!“ höre ich einen amerikanischen Touristen rufen, als ich bei Balkani vorbeikomme, dem osteuropäischen Delikatessenladen. Das Sauerkraut ist tatsächlich frisch aus dem Fass, so wie ich es aus deutschem Bioladen und Reformhaus kenne – und wie ich es in meiner zeitweiligen Wahlheimat USA nicht bekomme. Es wird jedoch zusammen mit würziger Wurst auf einem Sandwich verkauft – ich bin Vegetarier. Ein paar Meter weiter werde ich beim Sushi-Shop trotz der gerade verzehrten Tacos schwach – es gibt mit Avocado gefüllte Maki-Sushi. Daran komme ich nicht vorbei und lasse mir ein paar davon einpacken – für unterwegs.
Als Fan exotischer Gewürze ist Olive & Epices ein absolutes Muss für mich. Hier finden sich neben feinsten Olivenölen Gewürze für die mexikanische, mediterrane, türkische, griechische, afrikanische, indische und karibische Küche. Am Ende meines Marktbesuches möchte ich noch bei Le Havre aux Glaces vorbeischauen, wo es „das köstlichste Eis Montreals“ gibt, wie mir von Christine versichert wurde. Neben dem Eisstand filmt gerade das Team eines Montrealer Fernsehsenders und interviewt jemanden, der ein Buch in den Händen hält. „Die sind hier ständig mit ihren Kameras unterwegs“, sagt eine Frau, die neben mir am Eisstand steht. Als ich mit meiner Bestellung an der Reihe bin, entscheide mich für ein fruchtiges Sorbet – das beste und „beerigste“, das ich je gegessen habe.
Der Marché Jean-Talon befindet sich in keinem eleganten Art Deco Gebäude wie der trendige Atwater Market im Saint-Henri Viertel. Auch geht es auf dem Jean-Talon lauter, lebhafter und hektischer zu als auf den anderen Märkten Montreals. Aber auf keinem anderen Markt der Stadt treffen gebürtige Montrealer auf Immigranten aus so vielen verschiedenen Ländern wie hier. Denn es sind längst nicht mehr nur Italiener, die in Little Italy leben. Der größte Teil der Einwohner stammt aus Nordafrika, dem Libanon, Vietnam und Lateinamerika.
„Eigentlich ist der Markt der Mikrokosmos Montreals“, sagt die Montrealer Gastro-Journalistin Susan Semenak. Es gibt sogar Menschen, die nur wegen des Marktes nach Little Italy ziehen. Wie die gebürtige Libanesin Mayssam, die seit zwanzig Jahren in Montreal lebt. „Der Jean-Talon Markt ist sozusagen mein Laden an der Ecke“, sagt sie. „Da ich nur zwei Blocks vom Markt entfernt wohne, schaue ich im Sommer fast täglich dort vorbei, auch wenn ich nichts brauche. Ehrlich gesagt bin ich in dieses Viertel gezogen, weil ich nahe am Markt wohnen wollte. Der Jean-Talon Markt hat mehr Seele als irgendein anderer Markt auf dem ich je gewesen bin – und ich besuche während meiner Reisen viele Märkte“, so die Gastro- und Reiseautorin, die auf ihrer Website über Kulinarisches bloggt.
„Vielleicht liegt es daran, dass er „mein“ Markt ist und ich dort viele Marktverkäufer persönlich kenne, die diese Seele ausmachen. Dass der Markt eine Seele hat, bestätigen übrigens auch viele Touristen, die Montreal besuchen. Auch wenn sie aus Städten kommen, die selbst schöne Märkte haben, hinterlässt der Jean-Talon dennoch einen unbeschreiblichen Eindruck bei jedem von ihnen“. Über die Seele des Marktes schreibt auch Susan Semenak in ihrem 2011 erschienenen Buch „Marché Jean-Talon: Recettes & Portraits“, das auf Englisch unter dem Titel „Market Chronicles: Stories & Recipes from Montreal’s Marché Jean-Talon“ erhältlich ist.
Adresse und Öffnungszeiten: 7070 Avenue Henri-Julien (blaue Linie der Metro Richtung Saint-Michel bis zur Station Jean-Talon). Der Markt ist ganzjährig an sieben Tagen der Woche geöffnet: Montag bis Mittwoch 7 bis 18 Uhr, Donnerstag und Freitag 7 bis 20 Uhr, Samstag 7 bis 18 Uhr und Sonntag 7 bis 17 Uhr. Ab Oktober werden rund um den Markt Mauern zum Kälteschutz angebracht.
Erschienen in FORUM - Das Wochenmagazin (April 2013), Globetrotter-Magazin Herbst 2013, Badische Neueste Nachrichten 16.8.2014.
Die Autorin war auf Einladung von Bonjour Québec/Tourisme Québec in Montreal.
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