Kein Stadtteil gleicht dem anderen. Einzelne Straßenzüge und Viertel der Stadt am Rio de la Plata erinnern an Paris und Rom. Die Herkunft der Porteños, wie sich die Hauptstädter nennen, spiegelt sich nicht nur im kulturellen Leben der Stadt, sondern vor allem in der Architektur und den Prachtboulevards. Lediglich der Tango ist durch und durch argentinisch.
„Meint der etwa mich? fragt die junge Italienerin am Nachbartisch als sie bemerkt, dass ihr ein älterer Herr zunickt. „Jetzt bloß einen Augenaufschlag vermeiden und so schnell wie möglich in die andere Richtung gucken“, rät ihr die Freundin. Sie kennt die Regeln der Milonga, der traditionellen Tango-Tanzveranstaltung. Der Mann lässt seinen Blick über potentielle Tanzpartnerinnen schweifen und nickt der Auserwählten zu. Reagiert diese mit einem Augenaufschlag oder einem Nicken, treffen sich beide auf der Tanzfläche.
Im holzgetäfelten, mit Marmorsäulen und Spiegeln gespickten Tanzsaal der Confiteria Ideal finden täglich ab 15 Uhr Milongas statt. Im Schummerlicht bewegen sich meist ältere Paare zu den melancholischen Klängen übers Parkett. Die meisten sind Stammgäste und kommen schon seit vielen Jahren mehrmals die Woche, erzählt der knapp siebzigjährige Kellner im schwarzen Frack. Das berühmte Kaffeehaus aus der Belle Époque ist immer wieder Drehort für Filme. Mehrere Tanzszenen aus Carlos Sauras Film „Tango“ wurden hier gedreht. Dieser Film zeigt, was Tango ist: getanzte Melancholie, die Trauer um eine verflossene Liebe, aus der nichts geworden ist, weil das Leben andere Pläne hatte. Der Tango ist ein unverzichtbarer Teil der Lebenskultur der Metropole am Rio de la Plata und begleitet einen in vielen Vierteln auf Schritt und Tritt.
„Willkommen im Geburtsort des Tangos!“ ruft der Bandoneon-Spieler im Hafenviertel „ La Boca “ und stimmt den berühmten Gardel-Tango „Por una cabeza“ an. Der Stadtteil, der Ende des 19. Jahrhunderts als Viertel italienischer Einwanderer entstand, gilt als Geburtsstätte des Tangos.„Allerdings zeitgleich mit Montevideo!“, erklärt uns ein Freund aus dem benachbarten Uruguay.
Bekannt ist La Boca für seine kunterbunten Häuser, die aus dem Blech abgewrackter Schiffe gebaut und mit Schiffslack bunt bemalt wurden. Wahrzeichen des Viertels ist El Caminito, die 100 Meter lange Fußgängerzone mit zahlreichen Restaurants, gemütlichen Kneipen und Cafés. Hier bieten Künstler ihre Werke an und Tangotänzer ziehen auf Kleinbühnen vor den Restaurants für Touristen ihre Show ab. Begleitet werden sie dabei von Tangosängern und –musikern. El Caminito wurde 1926 in dem Tango „Caminito“ verewigt. Tangobegeistert wie wir sind, zieht es uns in den folgenden Tagen immer wieder nach La Boca.
Von Balkonen und Fenstern des bunten Hafenviertels winken uns Figuren aus Pappmaché zu. Es sind die Nationalhelden Argentiniens Maradona, Evita und der Tangokönig Carlos Gardel, der 1935 bei einem Flugzeugunglück ums Leben kam. Es gibt in Buenos Aires kaum ein Café, das nicht mit seinen Bildern gepflastert ist. Gardel hatte die beste Zeit als Sänger allerdings erst nach seinem Tod. „Wird er nicht von Tag zu Tag besser?“ fragt ein älterer Straßenverkäufer, aus dessen CD-Player Gardels Liebeserklärung an die Stadt, „Mi Buenos Aires Querido“, in voller Lautstärke tönt.
„Was heißt hier drei Nationalhelden? Wir haben vier!“ erklärt ein Fotokünstler in La Boca und zeigt auf Che Guavara Fotos, die er gerahmt verkauft. Es stimmt, es gibt in Buenos Aires weitaus mehr Postkarten, Poster, T-Shirts, Streichholzschachteln, Badehosen, Gläser, Tassen, und Graffiti mit dem berühmten Konterfei des Revolutionärs als von Gardel, Evita und Maradona zusammen. Die Fußball-Ikone selbst hat sich das Gesicht seines berühmten Landsmanns auf die rechte Schulter tätowieren lassen.
Auch im benachbarten San Telmo, einem der ältesten Viertel der Stadt und bekannt für seine Kolonialstilhäuser und Antiquitätenläden, gibt Tango den Ton an. Mehrmals täglich finden auf der Plaza Dorrego Tangovorführungen statt. „Hier im Viertel findet man die schönsten Kneipen der Stadt!“ sagt der Taxifahrer, als er an der Plaza anhält. „Viele Argentinier und nur wenige Touristen“, lacht er. Die meisten Taxifahrer in Buenos Aires sind sehr gesprächig, in Geschichte und Politik bewandert und erklären uns nicht nur die Sehenswürdigkeiten der Stadt, sondern auch deren geschichtlichen Hintergrund. Wer Spanisch spricht, kann sich so eine Stadtrundfahrt sparen – zumal Taxifahren in Buenos Aires relativ billig ist.
Das eigentliche Wohnzimmer der Hauptstädter ist das Café. Hier wird diskutiert, gestritten, über Politik, Wirtschaft und die Verwandtschaft gemeckert, hier werden Pläne geschmiedet und Verträge unterschrieben. Rund 8000 Cafés soll es in Buenos Aires geben – viele erinnern an die alten Kaffeehäuser in Wien und Prag. Wie das Tortoni, das 1858 eröffnet wurde und seine Innenausstattung seit dem frühen 20. Jahrhundert nicht verändert hat.
Hier gingen Künstler, Intellektuelle und Politiker ein und aus. Bevor er erblindete verfasste der in Buenos Aires geborene Schriftsteller Jorge Luis Borges an einem Tisch in der Ecke des Cafés seine Kurzgeschichten. Dort sitzt er noch immer in Pappmaché verewigt zusammen mit Carlos Gardel. Im wahren Leben sind sich die beiden jedoch nie begegnet.
Es ist gar nicht so einfach, im Tortoni einen Tisch zu ergattern, denn die Schlangen vor dem Eingang sind fast zu jeder Tageszeit endlos lang. Nach dem dritten Anlauf, um neun Uhr morgens, klappt es endlich. Nur die Hälfte aller Tische ist besetzt. Am Nachbartisch diskutiert eine Gruppe Studenten über Politik. Sie schreien, um sich Gehör zu verschaffen, denn die Tangomusik ist sehr laut. Ab 10 gibt es keinen freien Tisch mehr, vor der Tür bildet sich die erste Schlange des Tages und drinnen übertönen hitzige Diskussionen und Gelächter die Musik.
Das Tortoni liegt in der mit Platanen und Palästen im Art Nouveau Stil gesäumten Avenida de Mayo im Microcentro, dem „Zentrum des Zentrums“. Beherrscht wird das Microcentro von der Plaza de Mayo, dem symbolischen Herzen der Hauptstadt, wo sich der Präsidentenpalast Casa Rosada und rings um den Platz die Nationalbank, die Kathedrale und weitere Regierungsgebäude befinden. Hier wurde Buenos Aires 1580 gegründet. Der Obelisk „Pirámide de Mayo“ in der Mitte des Platzes wurde in Erinnerung an die Mai-Revolution errichtet. Bis heute ist die Plaza de Mayo der wichtigste Schauplatz für politische Kundgebungen und Demonstrationen.
International bekannt wurde der Platz durch die Madres de Plaza de Mayo (Mütter der Plaza de Mayo), die seit 1977 jeden Donnerstag um 15 Uhr eine halbe Stunde lang den Platz umrunden. Sie klagen die damalige Militärdiktatur an, die ihnen Töchter und Söhne geraubt hat. Bis heute haben sie keine Auskunft darüber erhalten, was mit den Verschwundenen passiert ist. In den sieben Jahren der Militärdiktatur (1976-1983) wurden 30.000 Menschen gefoltert und ermordet. Viele wurden in Massengräbern verscharrt oder aus Flugzeugen in den Rio de la Plata geworfen. Carlos Saura stellt in seinem Film „Tango“ in der Tanzszene „Mandagaran“ Folter und Verhör während der argentinischen Militärdiktatur dar.
Um 15 Uhr haben sich auf dem Platz Demonstranten aller politischen Couleur versammelt, um gegen Beschlüsse der Regierung zu protestieren. Als die Madres in ihren weißen Kopftüchern den Platz betreten, bricht heftiger Jubel aus. Während der ersten Demonstrationen vor über 35 Jahren trugen die Mütter Babywindeln als Kopftücher, auf denen der Name des von der Militärjunta verschleppten Kindes stand. Heute steht Madres de Plaza de Mayo auf den Tüchern.
„Sie sind unsere eigentlichen Nationalhelden“, sagt einer der Demonstranten zu uns. Die Madres setzen sich in Bewegung und umrunden schweigend den Platz. Wie oft habe ich die Madres in Fernsehdokumentationen den Platz umrunden sehen. Und nun bin ich unter ihnen, marschiere schweigend mit ihnen und den anderen Demonstranten um die Plaza de Mayo. Es gibt keinen Tango, der den Schmerz über den Verlust eines Kindes ausdrücken könnte. Der spanische Komponist und Texter Carlos Cano hat es in seinem „Tango de las Madres Locas“ (Tango der verrückten Mütter) dennoch versucht.
INFOS
Beste Reisezeit: Dezember bis März, wenn auf der Südhalbkugel Sommer ist.
Hotel: Malabia House (Design-Hotel), ehemaliges Konvent im grünen Stadtteil Palermo.
Anreise: Direktflug mit Lufthansa Frankfurt-Buenos Aires im Dezember ab 1100 Euro.