Die Iren glauben an Elfen und Geister. Es gibt Banshees aus der Anderswelt, deren Erscheinung den Tod ankündigt, Púcas, die dem Menschen in Tiergestalt erscheinen und vor Unheil warnen, und es gibt Erzbischof Marsh, der weder eine bevorstehende Heimsuchung noch sonst was verkündet, sondern nur auf der Suche nach einem Brief ist. Und das schon seit Jahrhunderten! Man hört ja so einige Gespenstergeschichten von alten Burgen und Schlössern im ländlichen Irland, aber Spuk in einer Bibliothek mitten in Dublin? Das kann nicht sein! Oder doch? Als ich Irlands älteste öffentliche Bibliothek betrete, frage ich die Bibliothekarin, ob etwas an den Geistergeschichten über den ruhelosen Erzbischof Marsh dran sei. Sie schaut mich mit diesem „Was?-Sie-glaubt-es-nicht-Blick“ an und erwidert: „Viele Studenten haben ihn spät abends gesehen und ich selbst spüre seine Präsenz. Gehen Sie einfach mal den Gang hinunter und achten Sie darauf, was geschieht“. Was soll schon zwischen den Buchreihen geschehen? Ich werde eines Besseren belehrt.
Wie aus dem Nichts fegt plötzlich ein eisiger Windhauch durch den langen dunklen Gang zwischen den hohen Bücherregalen. Ein Gespenst am Vormittag? Wenn schon, dann doch um Mitternacht! Oder? Ich blicke mich um. Die Fenster sind fest verschlossen. Auch an der Decke und am Boden sind keine Öffnungen zu erkennen, aus denen ein Luftstrom hätte entweichen können. Spielt meine Fantasie mir einen Streich?
Marsh’s Library wurde 1707 von Erzbischof Narcissus Marsh gegründet. In den beiden dunklen Eichenholzgalerien sind über 25.000 Bände untergebracht. Das älteste Buch stammt aus dem Jahr 1472. Das Mobiliar ist seit den Gründerjahren dasselbe. Im alten Lesezimmer saß 1866 Dracula-Schöpfer Bram Stoker bei Kerzenlicht und las Bücher über Geister, Hexen und Astrologie. Nachts soll der Geist des 1713 verstorbenen Erzbischofs in den Gängen herumwandern. Schuld daran ist ein Brief seiner Nichte Grace, der in einem der zahlreichen Bücher versteckt sein soll. Das Mädchen, das er großgezogen hatte, verliebte sich mit 19 Jahren in einen Seekapitän, was dem Onkel missfiel. Nie und nimmer würde er einer Eheschließung zustimmen, ließ er das Mädchen wissen. Das junge Paar entschloss sich deshalb, durchzubrennen. Die Nichte schrieb ihrem Ziehvater einen Abschiedsbrief, in dem sie ihr Vorhaben schilderte und um seine Vergebung bat. Da sie nicht wollte, dass er den Brief fand, bevor sie mit ihrem Liebsten über alle Berge war, legte sie die Notiz in eines der Bücher in der Bibliothek. Narcissus, der den Brief zu Lebzeiten nicht fand, kehrt nun Nacht für Nacht als Geist zurück auf der endlosen Suche nach den letzten Worten seiner Nichte. Der Erzbischof ist seit über 300 Jahren tot. Das sind mehr als 109.500 Tage. Dividiert man die Anzahl der Tage mit der Anzahl der Bücher, müsste er den Brief längst gefunden haben. Aber vielleicht fängt er immer wieder von vorne an zu suchen. Studenten, die bis spät am Abend in der Bibliothek arbeiten, wollen Narcissus Marsh dabei beobachten, wie er sich durch die Bücher wühlt. Ob die Fantasie mit ihnen durchgeht? Immerhin ist es im Herbst und Winter ganz schön gespenstisch, wenn man bei stürmischem Wetter an einem Tisch am Fenster mit Blick auf den Friedhof sitzt und das Licht anfängt zu flackern. Als ich den kalten Luftzug spüre, ist es allerdings Sommer.
Die Bibliothek ist einer meiner „111 Gründe, Dublin zu lieben„.