Die Windmühle in den flämischen Ardennen hat zwar keine Flügel mehr, dafür ist sie im Inneren ein Kunstwerk. Die Stille, die sie umgibt, wird an einigen Tagen nur vom Pfeifen des Windes oder dem Muhen einer Kuh unterbrochen. Die Landschaft aus gelben Feldern und grünen Wiesen rund um die Mühle wirkt wie ein Gemälde aus einer längst vergangenen Zeit. Gent ist nur eine halbe Autostunde, Brüssel knapp eine Fahrtstunde entfernt. Gefühlt sind beide Großstädte jedoch viel weiter weg.
In der Nacht zischt und heult der Wind um die alte Mühle in Markedaal. Die Schatten der sturmgepeitschten Bäume tanzen auf der Terrasse und liefern ein gespenstisches Schauspiel. Im Feuer knacken Holzscheite, die Kerzen auf dem Tisch und in den Fenstern flackern unruhig. Regentropfen schlagen hart gegen die Scheiben der kleinen Fenster. Vom oberen Stockwerk hört man das Knarren der alten Holzbalken. Die fünf Stockwerke der Mühle sind durch eine offene Treppe miteinander verbunden. Wir finden den Lichtschalter nicht und tasten uns vorsichtig an der Wand entlang die enge kurvige Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Die dicken Fußbodenbalken aus Eichenholz knarzen gewaltig unter unseren Füßen. Der Lichtschein der Außenbeleuchtung fällt durch das Fenster auf einen Teil der Treppe. Über mir sehe ich plötzlich Arme, die sich uns entgegen strecken. So, als wollten sie uns hinauf ziehen.
Es ist unsere erste Nacht in der Mühle. Am Nachmittag wären wir fast daran vorbeigefahren, denn der flügellose Turm, der versteckt in einer Kurve liegt, ist nicht gerade das, was man sich unter einer Windmühle vorstellt. Wer auch immer die steinerne Getreidemühle 1795 an diese Stelle baute, hat die Windverhältnisse außer Acht gelassen. Wegen der geringen Windstärke auf der kleinen Anhöhe stand sie die meiste Zeit über still. Die Flügel wurden mehr vom Wind mitgeschleift als gedreht. So kam die Mühle schließlich zu ihrem Namen Molen ter sleepe (sleepen bedeutet schleifen). Ein Blitz, der 1938 einschlug, legte die Flügel schließlich vollständig lahm und so klappert die Mühle schon seit weit über 70 Jahren nicht mehr.
Der Genter Künstler Piet van Praet, der sich selbst „crazy artist“ nennt, kaufte die Mühle im Jahr 2000 und hauchte ihr neues Leben ein. Im Wohnzimmer erschuf er ein sechs Meter hohes Mosaikkunstwerk à la Gaudi aus tausenden Spiegelscherben sowie weißen und schwarzen Fliesen. Die Mosaike stellen Algen, Wale und Wellen, das Meer und den Wind dar. Van Praet erschuf sich damit seine eigene Unterwasserwelt und verwandelte diese Etage in einen Leuchtturm. Über dem Wal-Mosaik sind vier bunt bemalte beinlose Körper angebracht, deren Arme aus den Hüften ragen. Die Arme, über die ich mich in der ersten Nacht erschrak. Auf der Terrasse hat der Künstler seine Spuren in Form einer Reihe von Insekten aus alten Eisen und dem Esstisch aus Stein hinterlassen.2006 verkaufte van Praet die halb renovierte Mühle. Das Geld vom Verkauf investierte er in eine Segelyacht, mit der er fortan um die Welt reisen wollte. So sein Plan. Irgendwie kam es jedoch nie zu der Reise. Die Yacht nutzt er nun als Hausboot in Gent.
„Bei mir war es Liebe auf den ersten Blick“, erzählt Jo Jo Vander Eecken, der die Mühle mit seiner Mutter Lucrèce kaufte und in ein gemütliches Heim umbaute. „Dass ich eine Menge Arbeit reinstecken musste, hat mich nicht erschreckt. Im Gegenteil. Ich bin Software-Entwickler von Beruf, aber in meiner Freizeit betätige ich mich gerne handwerklich“. Zunächst nahm er das Äußere in Angriff. Das Dach bekam neue Schieferplatten und die Außenwände wurden weiß gestrichen. “Eine titanische Arbeit“, erinnert sich Jo, „besonders im Inneren. Die Mühle war voller Leitern, weil es keine Treppen gab. Van Praet bewegte sich über die Leitern von einem Stockwerk zum anderen und ist dabei einmal so schlimm gestürzt, dass er sich beide Beine brach. Die besondere Form der Mühle - rund und nach oben immer enger werdend - schreckte Handwerker ab. So war ein Handwerker hier, der ein Angebot für eine Treppe machen sollte. Zwei Stunden lang hat er alles abgemessen, danach verschwand er und wir hörten nie wieder etwas von ihm“, lacht Jo. „Ich habe die Treppe schließlich selbst gebaut, aus den Eichenbrettern alter Eisenbahnwagons, die wahrscheinlich so alt sind wie die Mühle selbst“. Die meisten Möbel hat er selbst entworfen und im entsprechenden Stockwerk zusammengebaut. Anders ging es nicht, denn für fertige Möbel ist die Treppe viel zu eng und kurvenreich. Ein spezielles Design sind die Sofas und Sessel im Wohnzimmer, die er wie ein Puzzle gestaltet hat – ein Element fügt sich ins andere. Glücklich diejenigen, die Klaviersonaten beherrschen, denn in einer Ecke steht ein Klavier. Über der Stereoanlage daneben steht ein alter Plattenspieler mit der Plattensammlung von Jo.
An den Wänden im Schlafzimmer hat Jo eine Reihe gerahmter Glasfenster in allen Farben des Regenbogens angebracht, die abends eine magische Atmosphäre schaffen und zum Träumen statt zum Lesen einladen.Vom Schlafzimmer führt eine steile Leiter hinauf zum Bad unter dem Dach. Um hinaufzukommen, muss man sich an einem Strick festhalten, der rechts von der Leiter von einem Querbalken baumelt. So überlegen wir es uns nachts zweimal, ob wir wirklich raus müssen. Denn die Alternative wäre drei Stockwerke ins Untergeschoss hinabzusteigen, wo sich ein zweites Bad befindet. Das Bad aus massiver Eiche unter dem Dach ist ein wahres Prunkstück. Die bunten Spiegelmosaike an der dem großen Fenster gegenüberliegenden Wand verteilen das einfallende Licht gleichmäßig im Raum. Von der Badewanne aus hat man durch die großen Fenster einen unendlich weiten Blick über Bauernhöfe, Wiesen, Felder und Kühe. Der Flickenteppich aus gelben Feldern, grünen Wiesen und Kühen, die um eine Trauerweide stehen, wirkt wie ein Gemälde. Liegt man einmal in der Wanne, möchte man bei dieser Aussicht am liebsten nicht mehr raus. Bis auf das Pfeifen des Windes, das man hier oben besonders laut wahrnimmt, herrscht absolute Stille.
INFO
Die Molen ter Sleepe in Markedaal-Nukerke (ca. ½ Autostunde von Gent entfernt) bietet Platz für sechs Personen (2 Schlafzimmer, 1 Schlafcouch im Wohnzimmer) und ist ganzjährig über den Ferienhausvermittler Belvilla (www.belvilla.de) buchbar.
Nächst größere Stadt (30.000 Einwohner) und Einkaufsmöglichkeiten: Oudenaarde (ca. 2 km).
Die Autorin verbrachte auf Einladung von Belvilla eine Woche in der Mühle.In veränderter Form unter dem Titel “Mühle im Tiefschlaf” im Mannheimer Morgen vom 27.12.2014 erschienen.
November 21, 2014
Belgien