Scheveningen, ein Stadtteil Den Haags, liegt sechs Kilometer vom Zentrum entfernt. Ursprünglich ein kleines Fischerdorf, ist es heute das größte Seebad der Niederlande – und ein geschichtsträchtiges dazu. Wer sich dem Rauschen des Meeres und dem Tosen des Windes hingibt hört die Geschichten, die das Meer erzählt.
Zaghaft bahnt sich die Sonne ihren Weg durch die dichte Wolkendecke und taucht das Meer in ein hellrotes Licht. Der Sturm der letzten Nacht ist noch nicht ganz abgeklungen. Tosend brechen sich die Wellen an den weißen Pfählen der alten Seebrücke, die vor der Kulisse geballter Wolken am menschenleeren Strand fast gespenstisch wirkt.
Der Wind peitscht die schäumende Gischt über den nassen Sand. Die Flut hat massenweise Muschelschalen angespült und eine kleine Sandbank hinterlassen, auf der sich eine Schar Möwen tummelt. Laut kreischend zanken sie sich um ein paar Krebse.
Auf der gegenüberliegenden Seite thront das Kurhaus gigantisch über dem Strand. Der mittlere Teil des pompösen dreiflügeligen Gebäudes wird von einer Kuppel gekrönt, die neben der Seebrücke das Wahrzeichen Scheveningens ist. Ende des 19. Jahrhunderts war das Kurhaus ein Hotspot des europäischen Adels. Zu den berühmtesten Gäste zählte Kaiserin Elizabeth (“Sissi”) von Österreich. Sie liebte das Meer, das für sie Freiheit bedeutete. In einem ihrer Gedichte schrieb sie: “Mich bindet nicht Ort und nicht Stelle, ich fliege von Welle zu Welle.” Die Dauerreisende, die täglich lange Gewaltmärsche unternahm um ihre extrem schlanke Figur zu halten, soll während ihres Aufenthalts von Scheveningen zum Strand ins über 30 Kilometer entfernte Zandvoort marschiert sein. Ob die für ihre Waghalsigkeit bekannte Kaiserin wohl auch einen Bungee-Sprung vom 60 Meter hohen Aussichtsturm der Seebrücke gewagt hätte?
Der Wind wird plötzlich so stark, dass ich das Gefühl habe, jeden Moment abzuheben. Ich lasse mich treiben, der Wind entscheidet die Richtung. Ein Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit überfällt mich. Die Luft schmeckt salzig. Warum liegt dieser intensive salzige Geschmack nur bei sturmgepeitschter See in der Luft?
Der Wind trägt mich zu einer Frau, die unbeweglich auf einem Sockel steht und mit sorgenvoller Miene aufs Meer hinausschaut. Ihr langer, schwerer Rock weht landeinwärts. Ihre Haare sind unter einem Tuch verborgen, das über der Stirn zusammengeknotet ist.
“Für alle, die hinausgefahren und niemals wiedergekehrt sind”, höre ich jemand sagen. Ich blicke in die Richtung der Stimme. Eine ältere Frau steht mit ihrem Golden Retriever neben mir und deutet mit ihrem Finger auf die Inschrift, die am Sockel angebracht ist.
„Es ist die Statue der Fischersfrau, die zum Gedenken an all die Fischer, die nicht mehr von ihrer Fahrt aufs Meer zurückkamen, errichtet wurde“, erklärt sie. „Auch mein Urgroßvater wurde von der See verschluckt. Meine Urgroßmutter ist tagelang zum Strand gelaufen, stand da wie die Statue und hoffte entgegen aller Hoffnung, dass er doch noch zurückkehren würde. Aber er kam nicht mehr zurück“, sagt sie und legt einen Strauß Blumen zu Füßen der Fischersfrau. „Heute jährt sich sein Todestag zum 92. Mal. Da er an Land kein Grab hat, kommt jedes Jahr jemand aus meiner Familie zur Statue um seiner zu gedenken. Als Kind kam ich oft hierher um mir die Geschichten anzuhören, die das Meer erzählt“.
„Ob mir das Meer auch eine Geschichte erzählt?“ frage ich die Frau. „Natürlich“, antwortet sie. „Richte deinen Blick auf den Horizont und konzentriere dich auf die unendliche Weite des Meeres. Gib dich dem Rauschen der Wellen hin. Lass dir vom Wind den Kopf frei pusten. Hör gut hin und du wirst eine Geschichte hören“, sagt sie lächelnd und verschwindet mit ihrem Hund Richtung Strand.
Ich setze mich auf eine Bank und richte meine Augen auf die Weite zwischen den dicken weißen Wolken und den Wellen. Ich konzentriere mich auf das Rauschen des Meeres. Solange, bis ich nichts anderes mehr wahrnehme und warte, dass das Meer auch mir eine Geschichte erzählt. Ich schließe meine Augen. Das Monumentalgemälde Panorama Mesdag kommt mir in den Sinn. Plötzlich wird es lebendig. Ich sehe den Strand vor mir, wie er um 1880 ausgesehen hat. Fischkutter werden entladen, der Fang wird auf Pferdekarren verladen, Frauen und Kinder schauen zu. Am Horizont kämpfen Boote gegen gigantische Wellen an. Ein Boot kentert und wird von den Wogen überspült.
Der Wind wird stärker, das Brechen der Wellen lauter. Das Meer erzählt von der Allerheiligenflut im Jahr 1570 als halb Scheveningen in den Wellen verschwand. Es erzählt von dem 20 Meter langen Wal, der hier 1598 strandete. Es erzählt vom 30. November 1813 als Willem Frederik, Prinz von Oranien-Nassau, am Strand von Scheveningen anlegte. Nach 18 Jahren französischer Besatzung markierte seine Rückkehr aus dem englischen Exil den Beginn der Unabhängigkeit des Landes. Als Willem I. wurde er zwei Jahre später zum ersten König der Niederlande gekrönt. Ich sehe die rastlose Sissi, wie sie in ihrem langen Kleid und dem eng geschnürten Korsett am Strand entlang wandert. Das Meer erzählt tatsächlich Geschichten. Man muss nur genau hinhören.
INFO
Allgemeine Informationen: www.denhaag.com
Hotel: Carlton Beach Hotel, direkt am Strand von Scheveningen. Zimmer und Restaurant mit Blick aufs Meer.
Die Reise wurde vom Niederländischen Büro für Tourismus unterstützt.
Dezember 3, 2013 um 12:56 nachmittags
Schöner Artikel!
Es war ja erst letztes WE viel in Scheveningen los…
Dezember 9, 2013 um 3:35 vormittags
Hat dies auf Greatpoetrymhf's Weblog rebloggt und kommentierte:
sharing this great blog….it has english translations as well
Dezember 9, 2013 um 1:31 nachmittags
Most interesting. The photos are wonderful. This is the first time I have read a post with translation and good translation too. Life is good.
Dezember 9, 2013 um 6:09 nachmittags
Reblogged this on johnsmall9.