„Gent – zuviel für nur eine Nacht“ steht auf der Infobroschüre des Tourist Office. Mit Recht. Man braucht mehr als nur einen Tag, um die quirlige Stadt zu erkunden. Doch wo anfangen?
„Mit dem Genter Altar“, rät die Taxifahrerin und tritt aufs Gas. „Ihr habt noch eine knappe Stunde, bevor die St. Bavo-Kathedrale geschlossen wird“. Der monumentale Flügelaltar der Brüder Jan und Hubert van Eyck aus dem Jahr 1432 gilt als das bedeutendste und gleichzeitig rätselhafteste Kunstwerk seiner Zeit. Seit Jahrhunderten interpretieren Kunsthistoriker die nach der Apokalypse des Johannes gemalte Anbetung des Gotteslammes immer wieder neu. „Ich hoffe, ihr schafft es noch“, sagt die Taxifahrerin und deutet auf die lange Schlange als sie vor der Kathedrale hält. Knapp eine Million Touristen aus aller Welt bestaunen jährlich den Genter Altar in der nördlichen Turmseitenkapelle. Viel Zeit bleibt uns nicht mehr, als wir endlich an der Reihe sind und Audioguides erhalten. Deshalb hören wir uns nur sechs der zwölf Beschreibungen an, wobei jeder von uns einen anderen Bildausschnitt wählt.
Von der Kathedrale laufen wir zur Graslei, „dem schönsten Fleckchen der Stadt“, so ein Reiseführer.
Es ist Freitagabend. Im mittelalterlichen Hafen mit der historischen Häuserzeile und den vielen Kneipen, Restaurants und Straßencafés herrscht buntes Treiben. Wer sich keinen freien Platz an einem Tisch ergattern kann, setzt sich mit seinem Glas Bier ans Ufer.
Musik dröhnt aus den Kneipen. Ein Straßenkünstler führt Akrobatik vor, ein Gitarrist sitzt in einem Boot und spielt Yesterday von den Beatles. Ein paar Jugendliche tanzen am Ufer zu der Musik, die aus einem mitgebrachten CD-Player tönt. Als es anfängt zu regnen quetschen wir uns zu einem Glas Genever an einen der mit Schirmen überdachten Tische und beobachten das Treiben ringsum. „Willkommen im Herzen der Stadt“, prostet uns ein Einheimsicher zu.
Am nächsten Morgen beginnen wir unsere Tour auf Burg Gravensteen (Grafenstein). Nicht, weil sie mitten in der Stadt liegt, sondern weil sich unser gleichnamiges Hotel direkt gegenüber befindet. Die imposante Burg der Grafen von Flandern ist das älteste Gebäude Gents (Entstehungszeit um 807) und eine der größten Wasserburgen Europas. In 15 Stationen, von denen wir aber immer wieder abweichen, werden wir durch die Burg geführt. Am längsten verweilen wir auf dem Wehrgang im Burghof, da man von dort aus einen herrlichen Blick über Gent hat. Das Innere der Burg versetzt uns zurück ins Mittelalter: Ritterrüstungen, eine umfangreiche Waffensammlung, Folterwerkzeuge und Kerkerloch.
Da es uns bald fröstelt – nicht nur von den Folterwerkzeugen, sondern von der Kälte in den Räumen – verlassen wir das mächtige Bollwerk und gehen Richtung Kraanlei zum Haus von Alijn (Huis van Alijn). Dort machen wir eine Zeitreise in die frühen bis 70er Jahre des 20. Jahrhunderts.
Das kleine Volkskundemuseum besteht aus mehreren weißen Häusern, die sich um einen Hof reihen. Eine reiche Genter Familie stiftete das Anwesen im 14. Jahrhundert als Waisen- und Armenhaus aus Sühne für einen begangenen Mord. In jedem Zimmer tauchen wir in ein anderes Jahrzehnt ein: Tauf- und Babykleider aus dem frühen 20. Jahrhundert, Mode aus der Zeit des 1. und 2. Weltkrieges, Hunderte von Privataufnahmen von Genter Familien, Alltagsgegenstände, Spielzeug, die Nachbildung eines Tante-Emma-Ladens und vieles mehr. Im Innenhof steht eine typische Arbeiterkneipe, in der sich eine asiatische Touristengruppe tummelt.
Auf dem Weg zurück ins Zentrum gehen wir über den Sint-Veerleplein, dem ältesten Versammlungsplatz der Stadt. In früheren Jahrhunderten diente er als Markt, während der Zeit der Inquisition als Hinrichtungsstätte. Heute ist er Treffpunkt für Einheimische und Touristen aus aller Welt – wahrscheinlich ein Grund dafür, warum sich das Fremdenverkehrsamt Visit Gent hier niedergelassen hat. Blickpunkt dort ist der hochtechnologische Designtisch von Arne Quinze. Visit Gent befindet sich auf dem Komplex des Alten Fischmarktes, von dem heute nur noch die monumentale Eingangspforte aus dem Jahr 1689 übrig ist.
Nach einem ausgiebigen Mittagessen im nahen veganen Restaurant Avalon (Gent gilt als Veggie-Hauptstadt Europas) setzen wir unsere Tour am Wasser entlang Richtung St.-Michael-Brücke fort. Von der Brücke haben wir einen einmaligen Blick auf die Skyline der Stadt.
Eigentlich wollten wir eine Tour mit dem Boot machen, aber es fängt plötzlich derart zu regnen an, dass wir ins nächste Taxi springen und uns in den Citadelpark zum Museum für schöne Künste fahren lassen.
Highlights hier sind Werke von Hieronymus Busch sowie Zeichnungen und Gemälde der Romantiker, Impressionisten, Expressionisten und Surrealisten des 19. und 20. Jahrhunderts. Als wir das Museum verlassen scheint die Sonne und wir machen uns zu Fuß ins Zentrum zurück. Gegenüber des Citadelparks, auf der Charles de Kerchovelaan, steht ein monumentales Gebäude, das an ein Schloss erinnert. Es ist das HISK (Hoger Institut für schöne Künste), wie wir auf Nachfrage am Eingang erfahren.
„Kommt doch herein und schaut euch um. Wir haben Tag der offenen Tür“, lädt uns ein Mitarbeiter ein und drückt uns einen Lageplan der Künstlerstudios in die Hand. Junge Künstler aus allen Teilen der Welt haben in dem Gebäude ihre Studios, arbeiten dort und stellen aus. Eine mit roter Farbe gepinselte Linie führt über den Hof zu den Studios auf mehreren Stockwerken. Wir kommen mit dem Italiener Andrea Galiazzo ins Gespräch, der hier seine Gemälde „Chickens and Ducks“ ausstellt. Alle anderen Künstler sind uns ehrlich gesagt zu abstrakt und wir können nicht erkennen, was sie eigentlich darstellen wollen.
Unseren letzten Vormittag haben wir mit einem Flohmarktbesuch auf dem Beverhoutplein verplant. Die Sonne scheint und trotz der frühen Morgenstunde (okay, es ist schon 9, aber es ist Sonntag), sind die Tische der Straßencafés rund um den Flohmarkt alle besetzt. An den Ständen herrscht geschäftiges Treiben. Schon von weitem sehe ich eine afrikanische Holzskulptur, die ich unbedingt haben möchte. Sie um die 1,20 Meter hoch und würde gut in eine Ecke meines Flurs passen. Aber wie soll ich sie transportieren? „Unter dem Arm“, sagt der Verkäufer. Ich bitte ihn, die Skulptur erst einmal beiseite zu stellen, da wir erst noch ausgiebig über den Markt bummeln möchten.
Wer sucht findet hier garantiert alles, was sein Herz begehrt: Antiquitäten, feines Porzellan, antike Vogelkäfige, Schallplatten, Gemälde, Musikinstrumente, Kleider, Jugendstilpuppen, Lampen und och mehr afrikanische Skulpturen und Masken. Mein Sammlerherz schreit „haben!!“ Die Händler sind freundlich und nicht so aufdringlich, wie auf vielen anderen Märkten. Als wir zu dem Stand mit der afrikanischen Holzskulptur zurückkehren, liegt sie schon in ein kariertes Tischtuch verpackt auf dem Boden. „So kannst du sie bequem unter dem Arm transportieren“, sagt der Verkäufer. Koffer, Taschen, Skulptur unter dem Arm und mehrmals umsteigen. „Das wird eine schöne Schlepperei“, denke ich.
Wir gehen ins Hotel zurück, holen unser Gepäck und fahren mit dem Taxi zum Lekker in der Maria Hendrikaplein, dem besten veganen Restaurant der Stadt, zum Mittagessen. Günstigerweise liegt es genau gegenüber vom Bahnhof, so dass wir bis zur Abfahrt unseres Zuges in aller Ruhe essen können. Wir lassen die beiden letzten Tage noch einmal Revue passieren und finden, dass Gent nicht nur zuviel für eine Nacht, sondern auch zuviel für nur zwei Tage ist. Es gibt noch so viel mehr zu entdecken als das, was wir gesehen haben.
INFO
Allgemeine Informationen: visitgent.be
Fremdenverkehrsamt: Sint-Veerleplein 5
Trödelmarkt: Jeden Freitag, Samstag und Sonntag von 8-13 Uhr auf der Beverhoutplein.
TIPPS
City Card Gent: 48 Stunden für 30 Euro. Die Karte garantiert freien Eintritt in alle wichtigen Museen, Denkmäler und Hauptattraktionen Gents, freie Fahrt mit Bussen und Straßenbahnen sowie eine Bootsfahrt gratis.
Film-Tipp: Monuments Men. Großartige Aufnahmen von Gent und dem Center Altar. George Clooney’s Film „Monuments Men“ (Außergewöhnliche Helden) spielt zu großen Teilen in Gent.
Die Reise wurde vom Fremdenverkehrsamt Visit Gent unterstützt.
Juni 8, 2014 at 11:44 nachmittags
Danke für die vielen Eindrücke und die interessanten Aufnahmen.
Juni 14, 2014 at 3:57 nachmittags
:) :)
Dezember 6, 2014 at 8:10 vormittags
Beautiful impression of my hometown.
Dezember 7, 2014 at 9:39 nachmittags
Thank you. I like Gent a lot!