„Ne me quitte pas – verlass mich nicht“, trällert ein traurig aussehender junger Mann und spielt dazu Gitarre. Er sitzt auf einer Bank an der Place Darcy. Für wen spielt er, so früh am Morgen? Für die Berufstätigen, die an der Straßenbahnhaltestelle stehen? Oder für seine Freundin, die ihn verlassen hat? Vielleicht ist sie unter den Wartenden und der Jaques Brel-Klassiker ist allein für sie bestimmt.
„Ein menschenleeres Altstadtzentrum ist Luxus für den Reisenden“ denke ich, als ich die Place Darcy hinter mir lasse. Nur wenige Menschen sind morgens um halb acht in der Rue de la Liberté, der Haupteinkaufsstraße Dijons, unterwegs. Markiert wird der Beginn der Straße vom Triumphbogen Porte Guillaume, dem Tor zu der vom Mittelalter geprägten Altstadt mit Fachwerkhäusern und kopfsteingepflasterten Straßen.
Die Frage, in welche Richtung man gehen soll, lässt sich nur schwer entscheiden. Geradeaus, oder rechts oder links in eine der kleinen Gassen? Ich entschließe mich dazu, erst einmal die Rue de la Liberté entlangzulaufen und stoße auf die Place François Rude mit dem alten Brunnen, der einen Winzer beim Keltern darstellt und an die Zeit erinnert, als die Trauben noch mit den Füßen gepresst wurden.
Die Straßencafés rings um den Brunnen sind noch geschlossen. So leer werde ich den Platz am Nachmittag nicht mehr vorfinden. Neben dem Brunnen steht ein Karussell aus der Belle-Époque-Zeit. Es ist Gustave Eiffel gewidmet, dem berühmtesten Sohn der Stadt.
Auf beiden Seiten der Rue de la Liberté sind bunte Flaggen an den Häusern angebracht. Es sind die Flaggen der Gemeinden des Départements Côte-d’Or, dessen Hauptstadt Dijon ist.
Zwei junge Amerikaner versuchen, die Pharmacie du Miroir, ein gewaltiges altes Fachwerkhaus mit ihrer Kamera einzufangen. Es gelingt nicht auf Anhieb, das Gebäude ist zu groß. Zwei asiatische Touristinnen drücken sich an den Schaufenstern der Galeries Lafayette die Nasen platt und verewigen die Auslagen auf ihren Kameras.
Ich biege immer wieder in die kleinen Seitengassen rechts und links der Rue de la Liberté ein. Meistens mit dem Blick nach oben zu den Dächern mit den prächtigen farbigen Mustern.
Ich stelle mir vor, wie hier das Leben in den vergangenen Jahrhunderten gewesen sein muss. Manche Gebäude haben kleine Holztüren, die damals in die großen Doppeltore eingefügt waren, sodass Pferdekutschen in den Hof einfahren konnten. Eine der Türen steht offen und ich wage einen Blick hinein. Wilder Wein und Efeu ranken sich an einem Fachwerkhaus empor. In der Mitte des Hofes steht ein alter Brunnen auf dessen Rand eine grau getigerte Katze sitzt und sich putzt. Als ich näherkomme springt sie herunter und verschwindet durch ein geöffnetes Fenster im Erdgeschoss. Eine alte Frau tritt aus der Tür und schaut mich fragend an. In holprigem Französisch erkläre ich ihr, dass ich mir nur mal kurz den Innenhof anschauen wollte. “Diese Touristen”, scheint sie zu denken. Ich fühle mich plötzlich wie ein Eindringling und ziehe mich auf die Straße zurück.
Die Rue de la Liberté führt zum halbkreisförmigen, von Kolonnaden gesäumten Place de la Libération, wo der Palais des Ducs steht. Bis heute bildet der Palast den Mittelpunkt der Stadt.
Dort, wo die Herzöge von Burgund seit dem 14. Jahrhundert Hof hielten, ist heute das Musée des Beaux-Arts untergebracht, das zu den ältesten Kunstmuseen Frankreichs zählt. Im Westflügel des Palasts befindet sich das Rathaus. Hier residierte von 1945 bis zu seinem Tod 1968 der Namensgeber des Kirs, Bürgermeister Félix Kir, dessen bevorzugter Apéritif Weißwein mit einem Schuss Crème de Cassis war. Bei Empfängen im Rathaus servierte er seinen Gästen ausschließlich diesen Blanc Cassis, der ihm zu Ehren bald Kir genannt wurde.
Hypermoderne Bodenwasserspiele ziehen sich auf zwei Seiten quer über einen kleinen Teil des Platzes. Im Sommer ganz sicher eine willkommene Abwechslung, an diesem kühlen Herbstmorgen lässt mich das Wasser frösteln. Zwei Japanerinnen bitten mich, sie vor den kleinen Wasserfontänen zu fotografieren. Sie drücken mir ihr iPhone in die Hand, gehen in die Hocke und lächeln in die Kamera. „For our friends on Facebook“, sagen sie, als ich ihnen das Gerät zurückgebe.
Rund um den Herzogspalast stehen prächtige Patrizierhäuser aus dem Mittelalter und der Renaissance. In einem der Prachtbauten befindet sich das Café Les Grands Ducs, das bereits um 7 Uhr morgens öffnet. Trotz der kühlen Temperatur sitzen ein paar Frühaufsteher an den Tischen vor dem Café, lesen Zeitung und nippen ab und zu an ihrem Café au lait. Drinnen sitzen zwei ältere Frauen und sind in ein Gespräch vertieft. Aus einem Lautsprecher tönt leise Klaviermusik. Ich setze mich an einen Tisch ans Fenster und beobachte bei einer Tasse Tee das morgendliche Geschehen auf der Place de la Libération, die sich langsam mit Touristen füllt. Ein Skateboarder dreht seine Runden, ein Junge jagt seinem Hund hinterher, der sich von der Leine losgerissen hat, junge Mütter schieben Kinderwagen über den Platz. Ein junges Paar sitzt auf einer Bank, beide in das Display ihres Smartphones vertieft. Als ich das Café verlasse, sehe ich den jungen Mann mit der Gitarre von der Place Darcy wieder. Er lehnt gegen eine Hauswand und singt “L’amour est mort” - die Liebe ist tot.
INFO
Allgemeine Informationen: Burgund-Tourismus und Atout France.
Übernachten: Grand Hotel la Cloche an der Place Darcy.
Einkaufstipps Burgunder Spezialitäten
Dijon Senf: Maille, 32, Rue de la Liberté (einstiger Hofliferant Napoleons).
Pain d’épices: Mulot et Petitjean, 13, Place Bossuet
Essen: Le Grand Café, 5, Rue du Château (gegenüber der Galeries Lafayette)
Anreise: Mit dem Flugzeug bis Paris. Ab Flughafen Charles de Gaulle TGV-Direktverbindung nach Dijon (Dauer 1 Stunde 40 Minuten). Mit dem Zug ab Frankfurt 5 Stunden, ab Basel mit dem TGV Rhein-Rhone 1 Stunde 30 Minuten.
Die Autorin war auf Einladung von Atout France in Burgund.
Oktober 22, 2013 at 3:45 nachmittags
Beatuful sory my dear friend have nice day ! with love maxima
Oktober 22, 2013 at 5:47 nachmittags
Gut gelungene Aufnahmen!
Oktober 22, 2013 at 5:49 nachmittags
Danke!!
Oktober 24, 2013 at 10:45 vormittags
Danke für das Kompliment!!
Oktober 24, 2013 at 8:08 vormittags
wow, eine eigene tolle Art, Reiseberichte zu schreiben. Ich bin froh, dich per Zufall gefunden zu haben. Deine Berichte inspirieren mich! Reisen haben mein Leben geprägt und ich habe noch so viele Berichte zu schreiben… Danke. Ernst
Oktober 25, 2013 at 2:59 nachmittags
Schöner Bericht zu einer tollen Stadt - Senf aus Dijon findet man hier in SOA leider nur allzu selten…
November 4, 2013 at 7:23 vormittags
Beautiful pictures! And nice to know I can still read in German, mostly! ~SueBee