„Ich fand ein Steinhaus direkt am Ozean an einem Ort, den keiner auf der Welt kennt … die wilde Küste der Isla Negra …“, schreibt Pablo Neruda in seiner Autobiografie „Ich gestehe, ich habe gelebt“.
Das Haus ist heute das Museum „Casa Museo Isla Negra“ und mit über 250.000 Besuchern jährlich längst kein Ort mehr, den keiner kennt. Als der Dichter das Stück Land an der Playa de Isla Negra 1939 von einem spanischen Seemann kaufte, bestand es lediglich aus einem Steinhäuschen mit drei Zimmern. Durch Um- und Anbauten wurde aus dem Haus im Laufe der Jahre ein riesiges Anwesen mit ineinander verschachtelten Gebäuden, das in seiner Form an die Gestalt Chiles auf der Landkarte erinnert. „Mit Absicht“, soll Neruda gesagt haben.
Bewappnet mit Audioguide auf Englisch und vierseitiger Hochglanzbroschüre starten wir die Tour. „Fangen Sie bitte mit der Besichtigung des Wohnzimmers an und drücken Sie dazu die Taste 1 auf Ihrem Audioguide“, erklärt uns der Angestellte des Besucherzentrums, der die Tour zwar nicht leitet, aber aufpasst, dass in den Räumlichkeiten keiner fotografiert. Das Wohnzimmer lasse ich zunächst rechts liegen und biege links ins Esszimmer ein, da mich ein Blick durch das Fenster bereits neugierig gemacht hat.
Dort schaut die schwedische Sopranistin Jenny Lind über den mit bunten Kristallgläsern gedeckten Esszimmertisch hinweg sehnsüchtig aus den großen Fenstern zum Pazifik hinunter. Ihre großen Erfolge feierte sie zwar vor über 150 Jahren, auf Isla Negra lebt sie jedoch als Galionsfigur weiter. Eine von vielen, die der Sammler Neruda im Laufe seines Lebens erwarb. Seine Sammelleidenschaft grenzte an Besessenheit: Skulpturen, Masken, Gemälde, Porzellan, bunte Gläser, farbige und antike Flaschen, Spielzeug, Tische, Stühle, Lampen, Türkniffe, Seekarten, Navigationsinstrumente, Modellschiffe, Flaschenschiffe, Steine, Muscheln und alles, was das Meer ihm direkt vors Haus spülte. Wie die Ladeluke eines Schiffes, die Neruda zu einem Schreibtisch verarbeiten ließ. Allein auf Isla Negra setzte er 3500 kuriose Objekte aus aller Welt auf gekonnte Weise in allen Ecken und Wänden in Szene. „Sammelobjekte waren unsere Reisegefährten auf Schiffen, Zügen und Flugzeugen“, erinnert sich Matilde Urrutia, Nerudas Ehefrau in ihrer Autobiografie. „Sie kreuzten unsere Wege, als ob sie von uns angezogen worden wären“. Das hatte zur Folge, dass Isla Negra durch Um- und Anbauten mit dem Ausmaß von Nerudas Sammelleidenschaft wuchs. „Wenn ich mich nicht dafür entschieden hätte, mein Leben der Poesie zu widmen, wäre ich Baumeister geworden“, sagte Neruda immer wieder.
Die Besichtigung der Räume gleicht einer magischen Reise. In jedem Zimmer erwartet uns eine andere Überraschung. Das Wohnzimmer ist voller Galionsfiguren von alten Schiffen, die Nerudas lebenslange Liebe zum Meer widerspiegeln. Riesige Holzengel, die mit Ketten an der Decke befestigt sind, schweben durch den Raum. Die Tischplatte des Couchtisches ist das mit Glas versehene Steuerrad eines Schiffes. Neben dem Fenster steht an die Wand gelehnt ein Steuerrad, das zu einem weitaus größeren Schiff gehört haben muss. Auf beiden Seiten des mit großen runden Steinen ummauerten Kamins stehen messingfarbene Schiffsanker. Die Hausbar besteht aus einem Sammelsurium leerer Flaschen in allen Farben und Formen. In die Balken hat Neruda die Namen toter Freunde geritzt wie die der Schriftsteller Federico Garcia Lorca, Paul Éluard und Nazim Hikmet. Eine gewundene Treppe führt ins Schlafzimmer hinauf. Die riesige Fensterfront, die an zwei Wänden vom Boden bis zur Decke reicht, gibt einen spektakulären Blick auf das Meer und den schwarzen Felsenstrand frei. Die Zwischentüren in den Gebäuden sind schmal und niedrig und müssen für den hochgewachsenen Dichter viel zu niedrig gewesen sein.
„Neruda wollte sich auf Isla Negra gern wie auf einem Segelschiff fühlen“, sagte Rafita, sein langjähriger Handwerker. Wohl auch deshalb sind die mit afrikanischen Masken geschmückten Holzkorridore in den Gebäuden so eng wie auf einem alten Dreimaster. Seine Liebe für Schiffe und das Meer ist überall sichtbar, auch im Arbeitszimmer, das zahlreiche Modellschiffe beherbergt und wo der Schreibtisch steht, der aus der am Strand angeschwemmten Ladeluke gebaut wurde. Weitere Kuriositäten sind eine umfangreiche Schmetterlingssammlung mit riesigen Exemplaren, astrologische Tabellen und der Schreibtisch seines Vaters, der von der Wand hängt. Das Arbeitszimmer führt in einen Raum, der Nerudas umfangreiche Muschelsammlung enthält. Unter den 650 Exemplaren sind Muscheln in gigantischer Größe. Auch der degenförmige Zahn eines Narwals gehört zur Sammlung.
Das kurioseste Gebäude der Isla Negra ist der Pferdestall, den Neruda für ein Pferd aus Pappmaché errichten ließ, das er auf einer Auktion ersteigerte. Die braune Skulptur in der Größe eines echten Pferdes steht gesattelt im gelb gestrichenen Stall, gerade so, als warte sie auf einen Ausritt. Neruda nannte sie „das glücklichste Pferd der Welt“. Er liebte sein Spielzeug. „In meinem Haus habe ich eine Sammlung kleiner und großer Spielsachen, ohne die ich nicht leben kann. Das Kind, das nicht spielt, ist kein Kind. Aber der Mann, der nicht spielt, hat sein inneres Kind für immer verloren. Ich habe mein Haus als Spielhaus gebaut und ich spiele darin von morgens bis abends“, schreibt Neruda in seiner Autobiografie. Mit Isla Negra verband ihn eine lebenslange Liebe. Es war das Haus, das er am meisten liebte, der Ort, an dem fast all seine Gedichte entstanden.
Er starb 1973, wenige Tage nach dem Militärputsch. Erst nach der Pinochet-Diktatur konnte sein letzter Wunsch erfüllt werden, den er in seinem 1950 vollendeten Werk „Canto General“ (Der große Gesang) geäußert hatte: „Genossen, begrabt mich in Isla Negra, gegenüber dem Meer, das ich kenne, an jenem rauen, steinigen Ort mit den Wellen, die meine verlorenen Augen nicht wieder sehen werden…“
Copyright der beiden Fotos Pferd und Wohnzimmer (4. Foto): Fúndacion Pablo Neruda
Veröffentlicht in:
DER STANDARD, Wien (Das Casa Museo Isla Negra in Chile, 2.5.13).
Badische Neueste Nachrichten (Magische Reise durch das Sammelsurium eines Besessenen, 10.8.13).
FORUM - Das Wochenmagazin (Ein magisches Sammelsurium), 18.10.13).
Juli 28, 2013
Chile